31.03.2023     Rathaus + Bürgerservice

Vor 90 Jahren: „Freiwillige“ Mandatsverzichte und Beurlaubung

Vor 90 Jahren wurde der Gemeinderat in Lehre von der NSDAP gleichgeschaltet: Am 31. März 1933 wurde der Gemeinderat durch die Nationalsozialisten gleichgeschaltet und damit das Ende der Demokratie in Lehre besiegelt. Darüber gibt das Protokollbuch der Gemeinde Lehre vom 15. Januar 1925 bis 29. Juni 1944 Auskunft, das Uwe Otte eingesehen hat. Der ehemalige Ratsherr beschäftigt sich seit mehr als 30 Jahren mit der NS-Vergangenheit der Gemeinde Lehre. Der damalige Gemeinderat entspricht dem heutigen Ortsrat Lehre.

Bild (© privat): Gemeindeheimatpfleger Wilhelm Knigge

Bild (© privat): Gemeindeheimatpfleger Wilhelm Knigge

Der Gemeinderat traf sich am 31. März 1933 „abds. um 8.30 Uhr“ zu seiner Sitzung in der Gaststätte von Albert Bertram. Der neue Gemeindeeinnehmer, Schmiedemeister Albert Gerwig, wurde durch den Vorsteher August Bartels vereidigt. Unter dem Punkt „Verschiedenes“ wurde über die Arbeit der Wohlfahrtserwerblosen gesprochen. Dann ergriff der NSDAP-Propaganda-Obmann Willi Hellwald das Wort, um die Auflösung des Gemeinderats zu beantragen. Dazu heißt es im Protokollbuch: „Auf Antrag von Hellwald den Gemeinderat aufzulösen oder eine freiwillige Verzichtleistung von Mölle, Schulze und Jürgens, erklären Otto Schulze und Mölle ihren freiwilligen Rücktritt, Jürgens weigert sich, freiwillig zurückzutreten. Darauf erklärt der Gemeindevorsteher den Beigeordneten Fritz Jürgens als beurlaubt von den Sitzungen zum Gemeinderat bis zur endgültigen Klärung der Angelegenheit.“

Der Verdacht liegt nahe, dass es sich um mehr oder weniger erzwungene Mandatsniederlegungen der Ratsherren handelte, denn Otto Schulze (1898 – 1958) und Heinrich Mölle (1903 – 1980) gehörten der SPD an und standen in Opposition zur NSDAP. Mit Friedrich „Fritz“ Jürgens (1881 – 1955), der nach Aussage eines Angehörigen auch der SPD angehörte, und seiner Weigerung zum Rücktritt beschäftigte sich der Gemeinderat noch einmal am 12. September 1933: „Der Gemeinderat beschloß einstimmig eine Eingabe beim Staatsministerium zu machen mit dem Vermerk daß H. Jürgens einstweilen keine Strafe aufgegeben wird und H. Jürgens unter Bewährungsfrist zu stellen.“

Auf Seite 195 des Protokollbuchs wird an diesem 31. März 1933 die Zeitenwende mit einem „Schlussstrich“ unter den alten Gemeinderat sichtbar gemacht. Dort heißt es: „Durch die Gleichschaltung wurde der zeitige Gemeinderat aufgelöst, es waren darin vertreten“; es folgten die Namen der 1931 gewählten Ratsvertreter. Von den acht Gemeinderäten waren fünf NSDAP-Mitglieder. Darunter wurde ein schwarzer Strich gezogen. Damit war die Demokratie in Lehre Vergangenheit. Es heißt dann weiter: „Zu der Neuwahl wurde nur ein Wahlvorschlag der N.S.D.A.P. eingereicht, (…) die somit gewählt sind.“ Genannt wurden die acht Männer, die nun den Gemeinderat bildeten – alles „Parteigenossen“. Darunter der Ackermann und spätere stellv. Ortsgruppenleiter Richard Just und der Malermeister Heinrich Lüer (NSDAP-Nr.: 337 218), Bürgermeister von 1943 bis 1945. Zugleich wurden zwei Ersatzmänner benannt und das Gremium somit auf 10 Personen erweitert. Das alles geschah unrechtmäßig und die Vorgänge verdeutlichen, mit welcher Skrupellosigkeit die Nationalsozialisten vorgingen, um die Demokratie zu zerstören. Unterschrieben wurde das Protokoll von August Bartels und Richard Just.

 

Am Abend zuvor, am 30. März 1933, war im Nachbarort Wendhausen der SPD-Kreistagsabgeordnete Fritz Brandes von einem SA-Kommando in sogenannte Schutzhaft genommen und im Volksfreundhaus in Braunschweig schwer misshandelt worden. Er wurde gezwungen, „freiwillig“ auf sein Mandat zu verzichten. Seit 2020 erinnert eine Informationstafel in Wendhausen an den späteren Bürgermeister und Landrat.

 

In der Ratssitzung am 1. Juni 1933 verlor auch Gemeindevorsteher August Bartels, nach Aussage eines Zeitzeugen ein „alter Konservativer und nicht Mitglied der NSDAP“, sein Amt. Ihm sei klar gewesen, dass er keine Chance auf eine Wiederwahl hatte. Bartels hatte das Amt seit 1921 bekleidet. Das Protokollbuch vermerkt dazu: „Neuwahl des Gemeindevorstehers! Der Gemeindevorsteher A. Bartels verzichtete auf seine Wiederwahl. Vom Gemeinderat wurde der Kotsaß W. Bethge sen. vorgeschlagen und auch einstimmig gewählt. (…)“ Mit Wilhelm Bethge sen. (NSDAP-Nr.: 129 298) war der NSDAP-Ortsgruppenleiter auch der neue Gemeindevorsteher des Ortes geworden.

 

Lehre bildete im nordöstlichen Braunschweiger Umland eine Hochburg der Nationalsozialisten. Die NSDAP-Ortsgruppe wurde 1927 gegründet. Bereits bei der Reichstagswahl im Mai 1928 wurde die NSDAP erstmals stärkste Partei in Lehre. Die Nazi-Herrschaft in Lehre dauerte bis zum 11. April 1945, dann befreiten US-Truppen den Ort.

 

Der Neubeginn der Demokratie fand in Niedersachsen mit den Kommunalwahlen im September 1946 statt. Otto Schulze stellte sich dabei wieder für den Gemeinderat zur Wahl und auch Heinrich Mölle kandidierte bei den Wahlen 1952 und 1956 erneut. Otte abschließend: „Es bleibt eine wichtige Aufgabe, über das NS-Unrecht aufzuklären und sich auch heute Demokratiefeinden entschieden zu widersetzen.“

 

Text: Uwe Otte

Bild (© privat): Gemeindeheimatpfleger Wilhelm Knigge